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Sehe ich aus wie jemand, den Sie kennen?
»Zambie! Geh mal an die Tür!«, bellt Marcie. Sie klebt förmlich vor ihrem Computer, der auf dem langen, glatten Eichenschreibtisch bei ihr zu Hause steht. Wir sind bereits den ganzen Samstagvormittag im Chatroom des Little Flower Homes für unverheiratete Mütter eingeloggt und lesen die herzerweichenden Geschichten der Mutterlosen, Verlassenen und noch immer Suchenden.
»Sieh dir das mal an«, sagt Marcie und deutet auf den Bildschirm.
HI ICH SUCH NACH MEINA SCHWESTER THESHIA JONES HOFFE ES GET DIR GUT UND DU BIST GESUNT. Die Nachricht stammt von einer gewissen Shondel P. Es folgt eine noch rührendere, geschrieben von einer Frau namens theresa617. Sehe ich aus wie jemand, den Sie kennen? Mit eingestellt wurde das Foto einer blassen Theresa, die einen Stoffpudel in einem rot glänzenden Strampelanzug im Arm hält.
»Das ist ja deprimierend«, sage ich und erhebe mich von dem Stuhl neben Marcies. »Warum sehen wir uns das alles an? Ich weiß, wer meine biologischen Eltern sind. Ich weiß nur nicht, wo sie sind.«
Heute trägt Marcie schlabberige Baggypants im Gangsta-Stil, die mehrere Zentimeter unter ihrem spitzenbesetzten String hängen. »Das war dein Ankunftshafen«, erklärt sie. Sie redet mit mir, als wäre ich geistig zurückgeblieben. »Willst du nicht deine Kumpel aus der Nachbarschaft kennenlernen?«
»Diese Menschen sind nicht meine Kumpel!«, erkläre ich ihr zum hundertsten Mal. »Wenn man in einem Heim für unverheiratete Mütter auf die Welt gekommen ist, heißt das noch lange nicht, dass man irgendwelche Bindungen dorthin hat.«
Das kauft Marcie mir nicht ab. Für Marcie ist es etwas Exotisches, ein elternloses Baby gewesen zu sein. Ein Heim für unverheiratete Mütter ist total altmodisch – und da kann man sich modisch inspirieren lassen. Sie kann den Blick nicht vom Bildschirm lösen. »Ich versuche nur, dir eine Perspektive zu geben«, sagt sie zum Computer. »Du bist nach Hause gebracht worden. Von deiner eigenen Mutter! Stell dir vor, du wärest die arme Theresa mit dem Pudel.«
Sean kommt mit einer Pizzaschachtel hereinmarschiert. Marcie dreht sich um und grinst ihn an. »Seanie, sieht Rosie aus wie jemand, den du kennst?«
»Tut mir leid. Nein«, erwidert Seanie nervös. Marcie weist ihn an, die Pizza am anderen Ende des Schreibtischs abzustellen. Er beugt sich mit seinem bohnenförmigen Schädel über die Schachtel, und ich stelle mir vor, wie er von einem dieser karierten Wollhüte mit Ohrenklappen und Krempe bedeckt wird, den die Mütter von kleinen Schwächlingen ihren Söhnen in der Schule aufzusetzen pflegten. Er scheint immer in denjenigen Momenten meines Lebens aufzutauchen, in denen intimste Details enthüllt werden.
»Hol uns ein paar Servietten, Zambie«, befiehlt Marcie, und mein Chef nickt nur und schlurft in die Küche.
»Ich will wissen«, erkläre ich Marcie, sobald Sean weg ist, »wie ich meine Eltern finden kann, ohne Helen oder Pulkowski zu fragen.«
»Ganz einfach«, sagt Marcie. »Indem ich sie frage.«
»Nein«, sage ich erneut zu Marcie. »Sie haben schon genug um die Ohren. Und ich weiß nicht mal, ob Helen und ich uns wieder grün sind oder nicht.«
»Nur, weil du sie mit ins Starbucks geschleppt hast. Klasse Aktion.«
»Weißt du eigentlich alles über mich?«, frage ich. »Pass auf«, sagt Marcie, nimmt ein Stück Pizza aus der Schachtel und reicht es mir. »Auf die eine oder andere Art werden wir diese Leutchen schon auftreiben. Ich habe schon eine landesweite Online-Anfrage gestartet. Man geht einfach Bundesstaat für Bundesstaat durch, und ich bin bereits bei Illinois.«
Ich lege das Pizzastück zurück in die Schachtel. »Das Problem an deiner Anfrage ist nur, dass sie vielleicht gar nicht mehr Alexa Pulkowski heißt. Sie könnte doch inzwischen einen anderen Nachnamen haben.«
»Deshalb habe ich auch mit Johnny Bellusa angefangen«, sagt Marcie. Ich spüre, wie sie mich mustert, während ich neben der Pizzaschachtel stehe. »Hey, meine Freundin, du magerst allmählich ab. Hören die Leute denn auf zu essen, wenn sie herausfinden, dass sie uneheliche Kinder sind?«
Wie auf Kommando kommt in diesem Moment natürlich Sean herein und legt einen Stapel Servietten ab. Er tut so, als habe er Marcie nicht gehört.
»Ich bin nicht unehelich«, behaupte ich laut. Aber stimmt das auch?
»Seanie, Liebster«, sagt Marcie, »kannst du Roseanna bitte ein Stück Pizza geben? Sie wird langsam zu dünn, findest du nicht auch?«
Sean wirft einen verstohlenen Blick auf meinen Körper, sagt aber nichts. Habe ich abgenommen? Ich ziehe am Bund meiner Jeans und stelle fest, dass da mehrere Zentimeter Luft sind, die vorher nicht da waren. Bin ich wirklich dünner? Mein ganzes Leben habe ich geglaubt, dass Dünnsein gleichbedeutend ist mit Glücklichsein. Soll das etwa heißen, dass ich in diesem jämmerlichen Moment meines Lebens glücklich bin? Ich lege auch das Stück, das Sean mir gereicht hat, zurück in die Schachtel.
»Ich muss los«, sage ich zu Marcie. »Ich arbeite Eleanor heute im Seacrest Diner ein.«
»Am Sonntag?«
Seans Augen bewegen sich wie die Früchte in der Anzeige eines einarmigen Banditen; aus dem liebeskranken Freund wird der Chef. »Sie wollen es nur so mit ihr versuchen«, sagt er. »Sie können sie nicht gebrauchen, wenn sie den Ansturm am Wochenende nicht bewältigt.«
Marcie blickt vom Computer auf. »Also hat es bei Dr. Sharpe nicht geklappt?«
»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, sage ich ihr. »Einerseits amüsieren die Zahnärzte sich köstlich über die Sache mit dem Nachthemd, auf der anderen Seite stört es sie natürlich.«
»Ich glaube, sie heckt etwas aus«, sagt Marcie, dreht ihren Stuhl zu Sean um und schlingt die Arme um seine nicht vorhandene Taille. »Baby, findest du nicht auch, dass wir alle unsere Schlafanzüge zur Arbeit anziehen sollten?«
»Ganz und gar nicht«, erwidert Sean.
Ich bin froh, dass ich zum Seacrest Diner aufbrechen kann, wo ich etwas Einfaches und Erfolgversprechendes machen darf: Ich kann Eleanor beibringen, die Tische abzuwischen, nachdem die Gäste gegangen sind. Marcies Waisenpatrouille wurde mir allmählich zu anstrengend. Sie und Seanie zusammen zu sehen ist ebenfalls nicht leicht. Zu Hause ist es auch nicht besser, weil Mickey jeden Abend anruft und über Teddy und die Scheidung sprechen möchte und darüber, wie es mir geht. Ich weiß nicht, was genau er wissen will: wie es mir mit ihm geht, mit der Scheidung oder mit der Tatsache, ein mutterloses Kind zu sein. Und ich weiß auch nicht, ob er will, dass ich ihn bitte, über Nacht zu bleiben, oder ob er froh ist, dass ich nicht protestiere, wenn er nach einem Besuch den Mantel anzieht und meine Wohnung verlässt. Es ist eine verwirrende Zeit in meinem Leben. Eleanor dabei zuzusehen, wie sie mit kreisenden Bewegungen die Tische abwischt, hat etwas Beruhigendes.
Im Seacrest folge ich einer Serviererin, die sich mit den Ellbogen einen Weg durch den üblichen Wochenendtrubel bahnt und bei den Tischen nach Eleanor Ausschau hält. Ich entdecke den breiten, gebeugten Rücken meines Schützlings an einem Fenstertisch. Der Tisch, den sie schrubbt, sieht sauber genug aus, um darauf eine Blinddarmoperation durchzuführen. Sie ist hübsch anzusehen in der rosa Bluse und der weißen Schürze. Als sie aufsieht, bedenkt sie mich mit ihrem berühmten Halbmondlächeln. »Du machst hier gute Arbeit«, sage ich ihr und bewundere ihr Werk.
»Ich bin die Beste«, erwidert sie mit von der Anstrengung geröteten Wangen. »Das hat mir Mrs Bingle gesagt.«
»Wer ist Mrs Bingle?«
Eleanor wischt sich mit dem Gummihandschuh ein paar verirrte Ponysträhnen aus dem Gesicht. »Meine Leiterin.«
»Leiterin von was?«, frage ich leicht beunruhigt. Gibt es andere Sozialdienste, die mit Eleanor arbeiten und von denen ich nichts weiß?
»Na, von der Integrativen Theatergruppe!«, ruft Eleanor, als würde ich mich besonders dumm anstellen. Eine ältere Frau am Tisch hinter uns dreht den weißen Schopf.
»Das ist ja klasse, Eleanor. Ich wusste gar nicht, dass du in einer Theatergruppe bist.«
»Bin ich.« Eleanor klatscht in die Gummihände. »In der Integrativen Theatergruppe!« Die alte Frau sieht uns neugierig an. Ihr Haar ist mit Haarspray zu einem Nest aufgetürmt und steif wie ein Osterkörbchen.
»Ich singe! Ich mache mit bei der Vorführung! Alle aus der Wohngruppe, die wollen, sind dabei.« Eleanors Wangen röten sich noch mehr, als sie ihren Schwamm fallen lässt, die Schultern zurückwirft und tief einatmet. Dann schmettert sie los, und zwar so laut, dass das Gebäude einzustürzen droht:
Give my
regards to Broadway!
Remember me to Herald Square!
Tell all the gang at Forty-second Street
That I will soon be there!
Sie hält wirklich gut den Ton. Köpfe fahren herum, und jetzt kommen sogar die Köche aus der Küche, um zu sehen, was hier draußen vor sich geht.
Whisper of
how I’m yearning!
To mingle with the old time throng!
Give my regards to old Broadway
And say that I’ll be there e’er long!
»Das ist sehr schön, meine Liebe«, sagt die alte Frau und applaudiert über ihrem leeren Teller.
»Es geht noch weiter«, informiert Eleanor sie. Sie dreht sich wieder zu mir um und fragt: »Soll ich weitermachen?«
»Teufel auch, ja!«, ruft einer von den Köchen, ein dickbauchiger Mann mit einem Fleck auf der Schürze, der an eine Zielscheibe erinnert.
»Wir wollen hier in Ruhe essen«, grummelt ein Mann an Tisch sechs, doch jemand an der Theke brüllt: »Wunderschön!«, und der Koch winkt mit dem Pfannenwender. Eleanor genießt den Moment. Sie nimmt das Lob hoch erhobenen Hauptes entgegen, eine Lektion für uns alle.
Während Eleanors Kleinbus auf dem Rückweg zu ihrer Wohngruppe ist, rufe ich dort an, um mehr über diese Integrative Theatergruppe herauszufinden. Wie sich herausstellt, ist Mrs Bonnie Bingle eine Ehrenamtliche, die selbst einmal Theater gespielt hat. In einem Monat werden sie ein Stück mit dem Titel Nicht ohne mich aufführen. Ich kritzele den Termin in meinen Kalender und mache mich auf den Heimweg. Ich versuche hartnäckig, dem sexfreien Abend mit Mickey freudig entgegenzusehen. Wie üblich kommt er, um mich zu bekochen. Er wird wieder Fleisch zubereiten, das er aus der Arbeit mitbringt, als glaube er, es sei ein Allheilmittel, ein Stück Fleisch zu braten. Nach dem Essen wird er dann den Mantel anziehen, mich wirklich lieb an sich drücken und gehen. Anscheinend meint er, ich brauche immer noch eine Auszeit. Vielleicht ist er aber auch nicht scharf darauf, noch einen meiner Anfälle wie den vor dem 7-Eleven mitzuerleben.
Ich rufe ihn vom Auto aus an, um zu sehen, ob er schon in der Wohnung ist. Ist er. Ich sage ihm, dass ich aus dem Seacrest Diner komme, nicht aber, dass ich den Nachmittag bei Marcie verbracht habe.
»Ich hätte deinen Schützling auch gern singen gehört«, sagt er.
»Willst du über Nacht bleiben?«, frage ich.
»Vielleicht.«
Er wird nicht bleiben. Ich bin mir sicher.
Zu Hause in Ronkonkoma treffe ich ihn in der Küche an, wo er bei eingeschaltetem Radio das Abendessen kocht. Er hat noch den Anzug von der Arbeit an, und sein Schlips baumelt gefährlich nahe über dem Roastbeef, das er im Ofen brutzelt. »Ich habe vergessen, am Telefon danach zu fragen. Bist du heute Morgen bei Marcie gewesen?«, fragt er, schließt die Ofenklappe und lächelt mich an. Seine Wangen sind von der Hitze gerötet, aus dem Radio tönt ein verheißungsvolles Liebeslied. Er ist ein wirklich guter Mann, der mir nur aus dem einen Grund ein leckeres Essen kocht, weil er mich vielleicht liebt. Warum sollte er also nicht über Nacht bleiben?
»Sie hat das Little Flower Home für unverheiratete Mütter ausfindig gemacht«, antworte ich und stelle meine Aktentasche ab. Ich wünschte, er würde zu mir kommen und mich umarmen, doch er tut es nicht. Doch dann fällt mir eine Frage ein.
»Findest du, dass ich dünner aussehe?«
»In meinen Augen hast du immer großartig ausgesehen«, sagt er.
In Augenblicken wie diesen vermisse ich Teddy. Er hätte es mir gesagt, wenn ich wirklich dünner ausgesehen hätte. Er hat ja auch nie gezögert, es mir mitzuteilen, wenn ich fetter geworden bin. Da kommt mir plötzlich eine Idee. »Beweg dich nicht vom Fleck«, sage ich zu Mickey.
Ich renne ins Schlafzimmer, mache die Tür zu und schließe ab. Ich ziehe am Bund meiner Jeans, bevor ich sie aufmache. Die paar Zentimeter Luft sind immer noch da. Ermutigt ziehe ich die oberste Schublade auf und fange an, nach den roten Dessous zu suchen. Ich reiße mir die Kleidung vom Leib und lasse sie in einem Bündel auf dem Boden liegen. Dann schlängele ich mich in den String. Dieses Mal gleitet die dünne Spitze geschmeidiger über meine Hüften. Es geht entschieden leichter. Ich hake den BH zu und bemerke, dass weniger Lava aus den Vulkanen quillt. Es tritt schon ein wenig Material über den Rand, aber eben nicht so viel. Das kann man sagen. Ehrlich!
»Du meine Güte!«, rufe ich ins Leere. Ich spurte zum Wandschrank, reiße die Tür auf und betrachte das Ergebnis im bodentiefen Spiegel.
Ich höre mich nach Luft schnappen. Die Frau im Spiegel sieht gut aus. Wirklich, wirklich gut. Gut bedeutet, nicht zu fett. Gut bedeutet, dass der String nicht mehr zwischen weichem Schwabbelfleisch verschwindet, sondern auf den fast wieder sichtbaren Hüftknochen aufliegt.
Ich drücke die Hände auf die Brüste und spüre, wie sie sich über dem BH wölben. Mein Bauch wackelt kein bisschen! Wäre ich lesbisch, ich wäre in mich verliebt. Ich sehe sexy aus, ich bin echt scharf, ich sehe großartig aus! Freude durchströmt mich wie eine Transfusion. Ich bin nicht gerade das, was in der Cosmopolitan als »rank und schlank« bezeichnet wird, aber ich bin auch nicht fett. Überhaupt nicht.
Ich beschließe sofort, Mickey meinen neuen Leib zu zeigen. Ich bin es leid, allein zu schlafen, und ich vermisse seinen starken Körper neben meinem. Ich vermisse sogar seine Koteletten. Er liebt mich vielleicht so, wie ich bin, aber so wie ich jetzt bin, bin ich einfach besser! Ich reiße die Schlafzimmertür auf, stehe auf der Türschwelle und nehme die Schultern zurück, genau wie Eleanor, bevor sie ihr Lied geschmettert hat. Dann renne ich zum Wandschrank zurück und hole meine nuttigsten Schuhe hervor. Es sind vorne offene Stöckelschuhe, und ich schlüpfe schnell hinein. Wieder sehe ich in den Spiegel. Ich sehe sogar noch schärfer aus! Ein zweites Mal nehme ich die Schultern zurück und stolziere Richtung Küche. Die Musik dröhnt jetzt laut. Jemand singt zum Radio. »Shake it like a Polaroid picture!« singt die Stimme. Aber Moment mal, das kann doch nicht Mickey sein, der da singt. Das ist die Stimme einer Frau. Und ich gehe genau auf sie zu mit meinem BH, meinem String und meinen Stöckelschuhen.
»Rosie!« entfährt es Marcie, die ihr Weinglas ein bisschen zu heftig abstellt.
»Aaarrg!«, rufe ich und bedecke mich wie Eva im Paradies.
»Hui«, höre ich Mickey sagen.
Sean, der mit seiner Yankees-Kappe am Küchentisch sitzt, sagt gar nichts.
»Siehst du, Seanie?«, stellt Marcie fest. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie dünner aussieht.«
»Wann seid ihr beide denn gekommen, verdammt noch mal?«, kreische ich und lege mir völlig sinnlos ein Geschirrtuch um die Schultern.
»Vor einer Minute«, sagt Marcie. »Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass ich deinen Vater gefunden habe.«